2015-06-18

Europa verschanzt sich im 20. Jahrhundert

Heute hat die UN-Flüchtlingsorganisation die neuesten Zahlen zu den weltweiten Fluchtbewegungen veröffentlicht, demnach sich rund 60 Millionen Menschen auf der Flucht vor Krieg, Hunger und Gewalt befinden und damit alles in der Menschheitsgeschichte bisher Vorhandene in den Schatten stellen.
Die Kritik an der Unfähigkeit der internationalen Gemeinschaft, Lösungen zu finden, wächst nicht nur bei der UN.

Und wie sieht diese Unfähigkeit in der Praxis vor Ort aus?
Wie auch in zahllosen weiteren, insbesondere gutsituierten Wohngegenden wehrt sich u.a. aktuell in Lübeck das im Grünen residierende Wohnviertel "Bornkamp" seit Monaten vehement gegen eine Flüchtlings-Erstaufnahme für 600 Menschen. Man wolle lieber weniger Flüchtlinge und kleinteilige Einrichtungen über die ganze Stadt Lübeck verteilt haben, in der Platzmangel und Wohnungsknappheit im Übrigen genauso ausgeprägt sind, wie in vielen anderen Städten auch.

Nun knickt auch die städtische Politik ein, und ein äußerst seltener Zusammenschluss zwischen CDU, Grünen, Linke und Freien Wählern wollen keine Erstaufnahme mehr im Bornkamp, sondern ebenfalls mehrere, verteilte Erstaufnahmen. Der Zusammenschluss sagt den Steuerzahlern aber nicht, wer diese außerordentlich luxuriöse und damit teure Variante bezahlen soll und bringt außerdem den Zeitplan in Verzug: Weil niemand darauf warten kann, bis sich die Herrschaften endlich entschieden haben, bekommen Flüchtlinge in Lübeck demnächst womöglich wieder Turnhallenschlafplätze zugewiesen.

Gleichzeitig genehmigte der zaudernde Bauausschuss der Hansestadt indes nach jahrelangem Gerangel nun den Bau eines Bordells, der Bedarf sei vorhanden, gaben Ausschussmitglieder, unter anderem der Piratenpartei und der CDU der Presse bekannt. Eine denkbar merkwürdige Willkommenskultur in einer Stadt, die sich damit brüstet "weltoffen" zu sein und vor kurzem erst stolz in Großstadtmanier das Hansemuseum eröffnet hatte. Großstädtisch und "weltoffen" scheint die städtische Politik indes wohl eher für gewisse, zahlende Kunden zu sein, die dem 20. Jahrhundert entsprungen und ebendort immer noch fest verhaftet zu sein scheinen. Vor dem anhaltenden Flüchtlingsstrom verschließt der Bauausschuss in seinem provinziellem Klein-Klein dann lieber gleich beide Augen so fest, wie es nur irgendwie noch geht.

So passt es auch ins Bild, dass die Lokalzeitung Lübecker Nachrichten jüngst die Kommentarfunktion unter ihren Artikeln zur Entwicklung der Flüchtlingsaufnahme im Wohnviertel "Bornkamp" auf ihrer Facebook-Seite schließen musste, weil die Kommentaristen innerhalb kürzster Zeit jede Form der Diskussionskultur vermissen ließen. Und damit sind sie keineswegs allein, auch in Dänemark bestreiten inzwischen sämtliche Parteien den Wahlkampf zum großen Teil mit dem Thema Flüchtlinge oder vielmehr der Angst vor ihnen. Europa verschanzt sich im 20. Jahrhundert - und baut darum bis auf Weiteres lieber Bordelle als Flüchtlingsquartiere oder gar Wohnungen für die Neuankömmlinge. Jetzt muss man den Sinn solcher Bauvorhaben lediglich noch den 60 Millionen Flüchtlingen erklären, die gerade durch die Welt irren.

Links mit externen Beiträgen zum Thema:
HL-live
Update: HL Live hat seine Beiträge zum Thema offenbar gelöscht, Links veraltet.
Bauausschuss traut sich nicht: Kein Alternativstandort zum Bornkamp
Bordell in St.-Jürgen - Politiker geben grünes Licht

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